Stellen wir uns vor, wir schreiben das Jahr 2030. Wir wagen einen Rückblick auf eine Krise, die uns mit Beginn des 20er-Jahres immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt hat – körperlich wie seelisch. Was ist es, was geblieben ist?
Die Krise ist aufgearbeitet, oder doch nicht?
SARS-CoV-2 ist ausgeforscht. Kaum mehr ein Detail über das Virus – von der Entstehung, Entwicklung und Verbreitung – liegt noch im Dunkeln. Eine Reihe weiterer Wellen haben wir hinter uns. Die Impfung und inzwischen auch eine Reihe an Medikamenten halten die Infektiösität im Griff und die Menschheit hat gelernt, mit Corona zu leben. Zum routinemäßigen Check beim Verlassen der vier Wände gehört neben Schlüssel, Geldtasche und Handy jetzt auch die Maske dazu. Und sie zu tragen ist kein Muss (mehr), sondern eine Selbstverständlichkeit geworden. Wir haben nicht nur verstanden, sondern auch endlich begriffen, dass die Bedeckung von Mund und Nase uns selbst und unsere Mitmenschen vor eine Ansteckung mit Covid-19 und folglich einer möglichen Erkrankung schützt.
Die Politik hat sich schon längst anderen Aufgaben als der Pandemie-Bewältigung gewidmet und es im besten Fall geschafft, das Vertrauen der Bevölkerung – bzw. zumindest eines überwiegenden Teils – wieder herzustellen. Die politische Aufarbeitung ist abgeschlossen. Aber irgendetwas ist anders.
Und ja, wir haben wieder Feste gefeiert, getanzt, Konzerte und Festivals besucht und Freunde umarmt. Das unbeschwerte, gesellschaftliche Leben ist zurück und entzückt uns mehr, denn je. Aber irgendetwas ist anders.
Die Gesellschaft leidet
Rückblickend ist völlig klar, welche großen und kleinen Fehler in der Pandemiebekämpfung gemacht wurden. Niemals wäre es für die politisch Verantwortlichen überhaupt möglich gewesen, eine solche Krise ohne Fehlentscheidungen und unbeanstandet zu managen. Aber auch wir als Gesellschaft haben nicht nimmer alles richtig gemacht. Wir haben uns gegeneinander gestellt, gegen Andersdenkende die Konfrontationshaltung eingenommen und geistig die Fäuste geballt. Ein beschämendes Verhalten. Aber noch beschämender wirkt die Tatsache, dass wir für diese rebellische Art und Weise der menschlichen Begegnung alles andere und alle anderen verantwortlich gemacht haben, aber am wenigsten uns selbst. Heute ist uns bewusst, dass alleinig unsere Gedanken, Worte und Taten darüber entscheiden, wie wir mit anderen Menschen in Verbindung gehen. Und diese Gedanken, Worte und Taten sind frei von Autoritäten. Das bedeutet, niemand zwingt uns, zu denken, was wir denken, zu sagen, was wir sagen (oder nicht sagen) und erst recht niemand zwingt uns zu tun, was wir tun (oder eben nicht tun). Weder Politik, Medien, soziale Netzwerke, noch unser Familienumfeld oder Freunde tragen die Verantwortung dafür, was wir über andere Weltbilder, Vorstellungen oder Meinungen denken, reden oder wie wir mit ihnen umgehen.
Selbstliebe vs. Egoismus
Wir haben geglaubt, wir hätten uns mit uns selbst beschäftigt. In Wirklichkeit aber haben wir beurteilt, bewertet und missinterpretiert. Alles, was uns störte, hatten wir gedanklich mit einem Etikett markiert, damit wir es bei Bedarf schnell wieder finden und unser viel beachtetes Ego mit der Abwehr einer “Gefahr” von Außen befriedigen können.
Und es ging weiter: Plump angestrebte Selbstliebe wurde verwechselt mit einer “Ich entscheide über mich selbst”-Mentalität. Pippi Langstrumps bekanntester Satz “ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt”, wurde missbraucht als Rechtfertigung für gelebten Egoismus, der von einer Ich-Bezogenheit bis zum Narzissmus reichte. Denn im Gegensatz zu Astrid Lindgrens Kinderbuch-Figur ist dabei das Herz(-liche) völlig vergessen worden. Der totale Fokus auf uns selbst hat jeglichen Platz für Mitgefühl und Empathie verdrängt.
Selbstliebe ist ein wesentlicher Teilaspekt des umfassenderen Selbstwertgefühls, “das in einem hohen Maße nicht nur das Selbstbild eines Menschen bestimmt, sondern auch Basis eines wertschätzenden Umgangs mit anderen Menschen ist”, so eine Definition laut Wikipedia. Ich würde in diesem Zusammenhang weitergehen und behaupte: Jeder, der Selbstliebe spürt, ist sich nicht nur einer Vielzahl seiner dunklen Flecken bewusst, sondern auch der Gleichheit der Menschen im Sinne des Leidhaften. Werden wir uns bewusst und erkennen wir an, dass jeder Mensch leidet, “sein Packerl zu tragen hat”, dann erst haben wir die Chance, unseren Mitmenschen auf einer Ebene zu begegnen.
Nur mehr eine Erinnerung
Die in den 2020er-Jahren viel zitierte Spaltung der Gesellschaft ist knapp zehn Jahre später, nur mehr eine Erinnerung. So wissen wir heute darum, dass nicht Corona und nicht die politischen (Fehl-)Entscheidungen für die entstandenen Gräben schuldtragend gemacht werden können. Das wäre einfach gewesen, aber auch zu einfach. Denn die eigene Verantwortungslosigkeit zu sich selbst zu erfassen, sie einzugestehen, tut weh und ist ein Prozess, der viel Zeit braucht.
Diese Zeit haben wir uns gegeben. Das hat verändert. Und möglicherweise haben wir das Leid, das Corona hervorgebracht hat, gebraucht, um heute – zehn Jahre nach Ausbruch der Corona-Pandemie – von dieser Stelle auf uns selbst zurückzublicken, die Ent-Täuschung über uns selbst und unsere Selbst-Verantwortung zu erkennen. Vielleicht ist es das, was bleibt: Demut.